“Wie Ihr wollt nach Santiago de Compostela pilgern? Wisst Ihr überhaupt was das heißt?” Dreimal lese ich meinen Kindern (13+8) die Stelle aus dem Reisebericht über den Camino Primitivo vor: “Der Camino Primitivo gilt als Exot unter den Jakobswegen. Wenn es einen Weg gibt, der für Ursprünglichkeit steht und nicht Gefahr läuft kommerziell überlaufen zu werden, dann ist es vermutlich dieser. Denn dafür ist der Camino Primitivo viel zu anspruchsvoll und fordernd. Sein Wegprofil führt den Pilger hinauf auf einige hohe Berge und wieder hinunter, und das in einer hohen Regelmäßigkeit…..Es geht stetig bergan und bergab über mehrere Hundert Höhenmeter pro Tag.” (Quelle: Jakobsweg.de)

Okay, sie wollen es wirklich! Diese Gelegenheit müssen Lukas und ich ergreifen, sind doch sonst wir es, die unsere Kinder zum Wandern -oder auch nur Spazieren gehen- drängen. Oft scheint schon der Gang ins obere Stockwerk unseres Hauses eine Belastung für sie zu sein.

Da wir nun schon in Spanien sind, die Kinder sich ins Pilgern rein reden und fantasieren und ich mir kaum etwas schöneres vorstellen kann als drei Wochen draussen in der Natur meine Körperin zu bewegen, wird eine Packliste geschrieben, diverse Dinge besorgt (in meinem neuen Plastik-T-Shirt wandere ich 18 Tage mit nur zwei oder drei mal waschen zwischendurch :-), Proviant gepackt (wir sind low-budget unterwegs und können uns Restaurants nicht leisten), letzte Formalitäten erledigt (ich habe die Illusion jetzt 3 Wochen ohne WLAN zu sein…was ein Traum wäre für mich!), der Bus auf einem Campingplatz geparkt – und los geht’s. Ich würde sagen, schneller Entschluss: Von der Idee den Jakobsweg zu laufen bis zur Umsetzung brauchen wir gerade mal zwei Tage.

Nach Oviedo, dem Ausgangspunkt unserer Pilgerwanderung, nehmen wir den öffentlichen Bus. Bis wir beim Pilgerbüro angekommen sind, um uns unsere Pilgerpässe zu holen – in der wir in allen Kirchen und Herbergen einen Stempel rein bekommen, so dass die katholische Kirche weiss, dass wir tatsächlich nach Santiago gelaufen sind – sind wir bereits 5 km zu Fuß unterwegs,

Dann geht es richtig los. Vor der Kirche “San Salvador” setze ich meinen Rucksack auf, und : Die Hüftgurtschnalle bricht ab. Mist! Mein Sohn denkt an Weltuntergang und um die Laune nicht zu vermiesen knote ich die Gurte einfach auf dem Bauch zu. Das wird 18 Tage so gemacht , was dazu führt, dass mein Bauch jeden Abend eine tiefe Delle hat, die sich in der Nacht dann wieder ausdehnt – bis morgens wieder kräftig zugeschnürt wird.

Eigentlich dachte ich ja ich wäre die fitteste Wanderin unter uns. Versuche ich doch bei den häufigen ausgedehnten Spaziersprints mit meiner flotten Freundin Lara Schritt zu halten. Okay, mehr nennenswertes Training habe auch ich nicht wirklich. Was hatte ich noch mal in der oben genannten Quelle gelesen: “….ist der Camino Primitivo nicht für jeden zu empfehlen. Für bergaffine Pilger und Menschen mit guter Kondition ist er aber umso reizvoller…Wer also über eine hohe Fitness verfügt oder Pilgererfahren ist, der mag sich an den Camino Primitivo heranwagen…”

Nach 13 Kilometern bin ich es, die als letzte und voller Wehs bei der Herberge ankommt. Aua! Meine Schultern! Die eher versüffte Herberge mit 6 Stockbetten in einem Raum, haben wir für uns alleine, bis spät am Abend noch zwei Wanderer eintreffen. Im Gegensatz zu mir ist mein Sohn begeistert davon sich die Unterkunft mit fremden – übrigens erstaunlich gut durch trainierten – Männern zu teilen. In den folgenden Wochen werde ich noch öfters feststellen, wie unterschiedlich unsere Unterkunft-Prioritäten sein werden…


Ich mache kein Auge zu. Draußen regnet es in Strömen, es stürmt und donnert. Anstatt im direkten Kontakt mit dem zu sein was ist (auf einer Strasse mehrere Tage später, die steil bergauf führt lesen wir in gelber Caminoschrift : “The presence is a gift!”) , mache ich mir Sorgen wie wir bei solch einem Wetter wandern sollen. Endlich ist es früh genug die anderen zu wecken. Bevor wir noch im Dunkeln aufbrechen bekommen wir von unseren neuen Pilgerfreunden, die aus der Ukraine eingereist sind, zu hören, dass sie letztes Jahr bei “Iron-Man” (ein Triathlon-Wettkampf, bei dem man über eine ungewöhnliche Ausdauer verfügen muss) mit gemacht haben…Sollte mir das irgendwas darüber sagen, wie durchtrainiert mensch für den Camino Primitivo sein muss? “Nein” beschließe ich und lasse den Gedanken los. Leise kommt er dann doch nochmal durch die Stille des Geistes, als die zwei Ukrainer ungläubig auf die Kinder und unser grosses Gepäck zeigen und zum Beweis unser Existenz noch ein Foto von uns machen. Das ist nicht das letzte mal, dass wir auf Pilger treffen, die bei unserem Anblick überrascht sind und dies per Foto von uns ihren Liebsten (oder Facebook) mitteilen wollen.

Einer von vielen Sonnenaufgängen, die uns alle in den Bann ziehen.


Dieser Morgen ist so schön wie die meisten, die noch folgen werden. Nur nicht ganz so nebelig. Wir finden in einen flotten Laufflow und wandern schweigend durch die Landschaft Asturiens. Noch empfinden die Kinder das “Muschel- und gelber Pfeil suchen” als eine Art Schnitzeljagd, was sich im Laufe des Tages ändern wird. Während wir nach zwei Stunden eine Frühstückspause machen überholen uns die zwei Pilgerfreunde mit Blick auf ihre Handys. Direkt vor einer Muschel (=Wegweiser des Camino) bleiben sie stehen und fragen uns mit Blick in ihre Handys nach dem Weg, 

Die Muschel: Viele Wege führen nach Santiago de Compostela…


Die Frühstückspausen meiner Familie sind ein Segen für mich. Da ich morgens nichts esse (und das nicht erst sein Intervalfasten im Trend ist) habe ich Zeit für Yoga. Und zum ersten Mal seit wirklich langer Zeit fühlt sich mein Körper richtig hungrig nach ganz klassischen Dehn- und Schulterübungen an. Ahhhhh! Eine Wohltat! Alles tut weh, alles kommt nur gaaaanz langsam in Fluss, die Faszien brauchen eine gefühlte Ewigkeit um meine Körperin in ihr geliebtes Heimatgefühl zu entlassen. Insgeheim denke ich, dass den anderen Yoga auch gut tun würde, schliesslich bin ich hier nicht die einzige, die aus ihrem Körper stöhnt, aber Pilgern ist schon das Äußerste wozu die Kinder bereit sind – und das ist viel!
Irgendwann überholt uns auch Lea, eine französische Pilgerin, die schon seit drei Monaten unterwegs ist, und Jyoti beschließt, dass Pilgern alleine viel cooler ist und sowieso laufen wir ihr tatsächlich etwas zu langsam und alleine wäre sie viel schneller.
So geht es jeden Tag im Morgengrauen los, manchmal mit Taschenlampen. Warum so früh? Es ist die Zeit in der wir am meisten Energie haben, schaffen also schon ein gutes Stück Strecke – bevor dann auch 3-Ps-Phasen kommen mit etlichen Pinkel-, Picknick- und Pflasterpausen. Auch Sitzstreik ist dabei. 
Morgens ist es still. Wir sind still. Der Zauber der Nacht, die Stille durchdringt alles. Wir sehen die Sonne über einem atemberaubenden Bergpanorama aufgehen – ich liebe diese Morgenstunden und auch die anderen sind in ihren Bann gezogen.


Ob die Kinder denn wissen, was Pilgern ist? Ja. Wissen sie. Man erhält die Pilgerurkunde in Santiago nämlich nur dann, wenn der Pilgerpass abgestempelt wurde und der Sinn einer Pilgerreise verstanden werden kann. Ein immer wieder kehrendes Gesprächsthema unter uns. Ist die Urkunde doch heiß begehrt und Antrieb dafür zwischen 13 und 24 Kilometern Schwitzen und Rucksack-schleppen am Tag. Wohlgemerkt: In den Bergen!


Und was ist Pilgern für mich? Stille, Schweigen, nach Innen lauschen. Dem nahe sein, das nicht beschrieben werden kann. Gott nahe sein. Die meisten meiner Wanderungen habe ich bisher alleine gemacht. Schweigend. Mit genügend Zeit für formale Meditation. Und jetzt? Häufig ist es morgens zu kalt um mich ins Sitzen auf mein Kissen zu begeben – wohlgemerkt eingeklemmt zwischen meiner Matratze und dem Hochbett über mir – was oft garnicht möglich ist (obwohl ich klein bin). Oft sind auch die Kinder morgens schon wach oder wir haben eine lange Etappe vor uns und müssen noch früher los…Und: ich brauch mich um meine Praxis nicht zu sorgen. Es gibt so viele Möglichkeiten in unserer Familiengruppe Achtsamkeit zu praktizieren: Den Kindern wirklich zuzuhören. Wahrnehmen, dass wir ganz viel Zeit haben und uns diese nehmen, was heisst zu verlangsamen! Metta zu praktizieren, liebende Güte, Freundlichkeit und Wohlwollen. Dabei hilft meine Familie mir sehr. Mein Herz immer weiter auszudehnen. Bis es nicht nur all mein Sein, und vor allem das, welches ich nicht mag und eher verstecken will, zu umarmen, sondern auch das meines Mannes und meiner Kinder. Gerade auch dann wenn es eng wird, wenn wir uns streiten, wenn wir uns Vorwürfe machen. So viel Gelegenheiten dem Herzen Raum zu geben. Meine Liebe zu Leela zu spüren, die mit jedem Tag zu wachsen scheint, obwohl das Kind mehr als 2000 Kilometer weiter weg ist von uns. Wir denken oft an sie, in unseren Herzen wandert sie mit. Und dann diese endlose Möglichkeit den Atem wahr zu nehmen, die Füße auf der Erde zu spüren, sich auf das Schöne auszurichten. Immer wieder Erforschen: Wo kann ich noch liebender und weiter werden? Die Verbundenheit mit allem zu spüren, das Geben und Nehmen im Zyklus der Natur um uns herum. Geschenke und noch mehr Geschenke. Und unser grosses Glück: Eine Familie zu sein, miteinander sein zu können!!


Der Camino verändert uns. Wo in unserem komplexen Patchworkgeflecht oft wenig Entspannung im Alltag entsteht und wir eher aneinander vorbei leben öffnet sich nun ein Raum von grenzenlosen Freude und Liebe. Ein Raum, der oft gefüllt ist mit Lachen, Nähe und Intimität, wie bisher unbekannt in unserem Familiensystem.
Und wie es so ist, wenn etwas schön ist: Wir wollen es festhalten. Als wir eines Tages nach 4 Stunden wandern ohne Menschen zu begegnen an einem Haus vorbei kommen mit Panoramaausblick auf die umwerfenden Berge und Wälder, und dieses auch noch zu verkaufen ist, wollen die Kinder dort einziehen und legen sich richtig dafür ins Zeug. Und so wächst in uns allen der Wunsch nach “unserem Platz”, nach einem Ort an dem unser Sohn sich um Tiere kümmern kann, wir unser Gemüse anbauen können und umgeben sind von Wildnis. Erstmal haben wir diesen Ort jetzt in unserem Herzen….

Wir begegnen wenigen Menschen. Ich habe Zeit meiner Einsamkeit zu begegnen. So weit weg von jedem und allem fühle ich mich da in der grossen weiten Welt. In der es nichts zu geben scheint ausser uns. Es gibt keine Fragen mehr: Aufstehen, Anziehen (auch hier keine Frage nach dem “was denn?”), Schritt für Schritt gehen, Ankommen, Essen, ins Bett gehen, Schlafen. Einfachheit pur.

Manchmal treffen wir nach stundenlangem alleine sein auf eine spanische Bauersfrau, die mit Mundschutz durch ihr Dorf, bestehend aus drei bis fünf Häusern, läuft. Die meisten PilgerInnen laufen 10 oder 20 Kilometer mehr als wir am Tag. Und viele scheinen es eilig zu haben, haben nur ein paar Tage oder Wochen frei. Mit manchen kommen wir in Kontakt. Vor allem natürlich in den Herbergen. Bis zum Schluss habe ich nicht genau verstanden, warum mein Sohn nun ausgerechnet die Herbergen auswählen möchte mit den meisten Hochbetten und sich freut wenn die Räume so voll wie möglich sind – dann nicht nur mit Menschen, deren Sprachen wir leider oft nicht verstehen, sondern auch ihren Schuhen und Socken….Zwei mal schaffen wir unsere Etappen nicht – und wollen es vielleicht auch nicht so ganz – schlafen dann draußen, was wir wundervoll finden. Ich freue mich allerdings auch wieder sehr auf eine warme Dusche und vor allem warmes Essen.

Diese Pilgerwanderung ist auch ein Weg der Entsagung, Oft gibt es nur das gleiche zu essen, vor allem für uns als VeganerInnen und VegetarierInnen ist es herausfordernd, Manchmal haben wir nur gefundene Äpfel und Walnüsse im Gepäck (sehr lecker! Danke liebe Erde!) an anderen Tagen schleppen wir Brot, Tomaten, Möhren, Nüsse und Gurken mit uns. Oder Essen, das wir uns kochen wollen (mehrmals sammeln wir Pilze) um dann in der Herberge fest zu stellen, dass die Küche geschlossen ist. Ach ja, und dann gibt es noch den Schleckerclub, dem ich nicht zugehörig bin. Die transportieren dann noch Kekse mit sich…Bei anderen Wanderern sind wir schon bekannt, als “die mit dem grossen Rucksack”, was zu mancherlei Gelächter führt. Ja, es wäre schön weniger Essen rum zu tragen und auch mal in den Herbergen zu essen und: wir sind meistens sehr glücklich! Nur weniger Kleidung würden wir das nächste mal mit nehmen. Wir begegnen auf dieser Reise vielem, was man nicht braucht.

Und dann nach 18 Tagen und 310 Kilometern, die unser Sohn auch immer wieder langweilig fand und sich oft die Zeit mit dem grossen 1×1 und Maiskobeln-sammeln vertreibt, einem Weh im Herzen, dass diese Zeit schon vorbei ist und einem Reichtum an Liebe und Geborgenheit erreichen wir Santiago de Compostela! Ein sehr berührendes Gefühl auf dem Platz vor der Kathedrale anzukommen und uns mit all den Pilgern, die dort am Boden liegen oder sitzen, verbunden zu wissen.

Santiago de Compostela! Eine fantastische Stadt, in die Pilger aus allen Himmelsrichtungen einkehren. Und das schon seit hunderten von Jahren. Manche von ihnen sind über 2000 Km gepilgert, Wir sind nach 310 km überglücklich am Ziel! Und das schönste: Als wir gerade angekommen sind ruft “zufällig” gerade unsere grosse Tochter aus Estland an ❤️

Jetzt während ich dies schreibe sehe ich unter mir meinen Sohn in den Wellen des Atlantischen Ozeans stehen und ins Meer schauen. Gestern sind wir aus Santiago de Compostela 6 Stunden mit dem Bus durch die Landschaft zurück gefahren, durch die wir 18 Tage gewandert sind. Nun sind wir wieder mit dem Campervan unterwegs zu neuen Abenteuern. Und überlegen schon, wo wir als nächstes hinlaufen könnten, und ob mit oder ohne Esel….